
In was für einer Welt leben wir eigentlich?
In mir kommt Scham auf für mein Privileg Europäerin zu sein. Wir haben alles, was man sich vorstellen kann. Unser Alltag ist nicht zu vergleichen mit ärmeren Ländern. Oder einfach nur mit anderen Ländern. Die Sicherheit sich frei zu bewegen ohne Angst vor Angriffen. Eine gewissen Grundsolitarität, die uns leichtfüßig und blind durchs Leben laufen lässt.
Aber unser System ist auch hier so giftig, dass wir alle von Sorgen geplagt sind und Existenzängste bewahrt haben. In der Corona-Krise mehr denn je. Dabei haben wir doch so tolle Werte, die wir mit unserem Handeln vertreten. Solidarität wird jetzt groß geschrieben. Die klassischen Medien haben sich einheitlich darauf geeinigt, die Menschen zu Hause zu halten und an die Zusammengehörigkeit zu appellieren. Vor allem in Österreich steigert sich das Einigkeitsgefühl. Stolz, gemeinsam gegen das Virus zu kämpfen. Stolz, so früh reagiert zu haben und „den Hammer“ als Maßnahme anzuwenden, also die strengen Einschränkungen hinzunehmen. Junge Menschen helfen Älteren, es gibt Anerkennung durch Applaus für systemrelevante (und meist präkere) Arbeiter und das neue Gebot, anderen Menschen im Supermarkt respektvoll in großem Bogen auszuweichen, wird fast schon wie ein Tanz zelebriert. Niemand wagt es, hustend in öffentlichen Räumen zu stehen, sich im Gesicht oder überhaupt irgendetwas anzufassen oder mehr als eine Packung Klopapier zu kaufen. Aber da wir alle in einem Boot sitzen, schweißen und diese Distanzierungen paradoxerweise zusammen (man denke an das freundliche Lächeln, dass sich die Menschen in Wien(!) beim Ausweichen schenken). Zusammen schaffen wir das!
Wir sind nur mit uns selbst beschäftigt
Und dann ist da aber die andere Seite. Regelmäßig in den klassischen Medien werden gescholten: Corona-Partys, mehr als 2 Personen nebeneinander, anderen Menschen (etwas in) die Hand geben. Wer die neuen Distanzregeln nicht befolgt, verhält sich asozial. Bis zu einem gewissen Maße ist diese Reaktion nachvollziehbar. Aber wir lassen uns damit ablenken.
Was die Medien eigentlich viel mehr bemängeln sollten:
- Europäische Nationen, die ihre Grenzen schließen, bevor irgendwelche anderen Maßnahmen ergriffen werden,
- Europäische Nationen, die sich nicht auf ähnliche Entwicklungen vorbereiteten, obwohl die Krise in China offensichtlich war,
- Europäische Nationen, die in anderen europäischen Nationen in Notsituationen/Katastrophenfällen nicht augenblicklich unter die Arme greifen
- (Ex-)Europäische Nationen, die erstaunlich lang dazu bereit waren, die zu erwartenden Todesopfer hinzunehmen
- Eine Europäische Union, die keinen gemeinsamen Plan zur Distribution von Hilfen, Fachkräften und Patient*innen zustande bekommt
- Eine Europäische Union, die als vorrangiges Ziel das Wachstum der europäischen Wirtschaft hat, statt seinen Reichtum solidarisch mit denen zu teilen, auf deren Rücken er erbaut wurde (kleiner Tipp: Griechenland und die Türkei sollen derzeit echte Hotspots für diese Menschen sein
- Eine Europäische Union, die nach massenhaften Protesten und deutlicher Signale aus der Bevölkerung bei ihrem Klimagipfel nur eher so Richtlinien auf freiwilliger Basis zustande bringt, statt in die Zukunft zu denken und die europäische Wirtschaft nachhaltig umzubauen.
Aber erst mal sind wir uns alle selbst die nächsten. Ich frage mich, ob diese Krise den Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien schwächen oder verstärken wird. Irgendwie sind wir hier in einem Zwischenraum gelandet. Unser Gutmenschentum gegen ganz essenzielle Existenzängste. Eurozentrismus, Nationalismus.
Ein Blick über den Tellerrand
Da fällt mir ein: wie sieht es eigentlich in anderen Ländern aus? Also außerhalb der EU. Über die USA hört man Horrorgeschichten vom Horrorpräsidenten, Im Iran sind die Infektionen außer Kontrolle und in Venezuela stehen die Menschen Schlange vor dem Lebensmittelgeschäften, in denen sie sich schon vorher dank katastrophalen Lebensumständen kaum etwas leisten konnten. Und der Rest? Auch wenn wir alle in unseren sicheren vier Wänden sitzen, herrscht derzeit geordnetes Chaos in Europa. Wie werden Länder damit fertig, in denen eine schlechtere Infrastruktur herrscht, in denen das Gesundheitssystem quasi nicht existent ist? Was bedeuten die gleichen Maßnahmen und wirtschaftlichen Folgen in diesen Ländern? Kommt da auch eine EU und bietet Milliardenkredite um alle zu versorgen und das System stabil zu halten? Oder werden dort nicht nur die Erkrankten sterben, sondern auch deren Angehörige, weil Familien nicht mit dem Nötigsten versorgt werden können? Meckern wir hier in Europa auf viel zu hohem Niveau?
Ja. Aber, das heißt nicht, dass wir nicht meckern sollten. Wir müssen anprangern! Und zwar nicht die, die zu dritt durch den Park laufen, sondern unsere Regierung, dafür dass sie die Grenzen geschlossen haben und andere Staaten weltweit alleine lassen. Regierungen, die ihre Bürger*innen nicht ausreichend vor dem Virus und der Katastrophe, die es mit sich bringt, schützen. Regierungen, die sich jetzt feiern dafür, dass sie so „hart durchgreifen“ um zu verschleiern, dass sie zwei Monate lang geschlafen haben und diese Einschränkungen in dem Ausmaß überhaupt notwendig sind. Aber auch Regierungen, die seit fünf Jahren Menschen vor ihren Grenzen abweisen und ertrinken lassen. Regierungen, die ihre Gesundheitssysteme kaputtgespart haben, weil diese wirtschaftlich arbeiten müssen. Regierungen, die ihre Bürger*innen Müll sammeln lassen, weil ihnen die Pension, die sie für jahrzehntelange systemrelevante Arbeit bekommen, für Miete und Grundversorgung nicht ausreicht. Und auch Regierungen, denen wirtschaftliches Wachstum so unanfechtbar wichtig ist, dass sich ein absurder Immobilienmarkt entwickelt hat, der sich durch Undurchsichtigkeit, Steuerparadiese und Subventionen für unsolidarisches Handeln auszeichnet. Regierungen, die so viel so billige Ware produzieren lassen und die Überschüsse in ärmeren Ländern zu Dumpingpreisen, und die dortige Bevölkerung hat keine Chance mit ihren eigenen Produkten mitzuhalten. Die EU verkauft zum Beispiel tonnenweise Milchpulver in afrikanische Staaten, sodass dort keine Bauernfamilien mehr ihre Milch verkaufen können.
Es gibt zahllose Dinge, die in Europa und in dieser Welt grundlegend falsch laufen. Und es gibt mindestens so viele Lösungsvorschläge dazu. Die meisten werden aber überhört und alles, was eine grundlegende Änderung bedeuten würde, wird als Utopie abgetan. Weil so grundlegende Änderungen ja niemals durchgesetzt werden könnten. Weil diese Änderungen die Wirtschaft zusammenbrechen lassen würden. Weil sich Staaten dafür verschulden müssten. Weil Menschen nicht mehr so arbeiten würden, wie sie es bisher tun. Wir sehen ja gerade, wie unmöglich das ist.
Der schier unbesiegbare Kapitalismus geht in die Knie vor einem mikroskopisch kleinen Virus. Erinnert ein wenig an „Krieg der Welten“. Wir sind uns nur noch uneinig, wer der eigentliche Feind in der Geschichte ist.
