Wie wir und selbst infrage stellen sollten
Es war einmal eine Welt mit vielen Völkern und Kulturen, die einander nicht verstanden. Trifft man auf etwas, das anders ist, ist das erst mal beängstigend. Andere Sprache, anderes Aussehen, andere Gepflogenheiten, andere Werte. Das versteht man erst mal nicht. Deshalb findet man es befremdlich.
Hier trennt sich bereits die Spreu vom Weizen. Denn die einen lehnen das Andere einfach ab, weil sie es nicht verstehen (wollen). Dann gibt es aber die Leute, die diese Unterschiede zum nachdenken anregen. Warum finde ich es bescheuert, dass man stets nickt und lächelt? Und warum machen wir das eigentlich nicht? Was steckt hinter der Verhüllung von Frauen? Hat ein einfaches Leben vielleicht sogar Vorteile?
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?
Diese Art andere Kulturen zu betrachten und zu bewerten, hat immer etwas damit zu tun, wie man selbst lebt. Abneigung und Unverständnis sind erst mal relativ normal; Feindseligkeit hingegen, spiegelt nur die eigene Angst wider. Aber alles abzuwerten, was nicht den eigenen erlernten Werten und Normen entspricht, ist einfach. Und es ist ignorant. Denn es bedeutet, dass man davon ausgeht, dass die eigene Art zu leben, die einzig richtige, die gute Art ist.
Schon seit über einem Jahrtausend begründeten Gesellschaften die Versklavung anderer damit, dass diese aufgrund ihres Glaubens, ihrer Lebensweise, ihrer Gesellschaftsstruktur oder ihrer Fähigkeiten, weniger wertvoll, weniger gut, weniger menschlich wären. Diese Menschen werden zur Ware gemacht. Sie sind das Eigentum ihrer Besitzer_innen und haben keine Rechte.
Heute sind westliche Gesellschaften die Vorherrschenden auf diesem Planeten. Aber das bedeutet nicht, dass sie die einzigen sind und waren, die andere Völker unterdrückt oder abgewertet haben (und immer noch tun). Sklaverei ist schon seit der Antike eine Institution, die zahlreichen Hochkulturen zu ihrem Reichtum verholfen hat. Und es waren auch nicht immer nur andere Völker, die versklavt wurden, sondern auch Menschen aus der eigenen Bevölkerung (Stichwort: Leibeigene). Unbezahlte Arbeit ist schon immer ein wichtiger Faktor für schnelles Wirtschaftswachstum.

Dass viele in unserer eurozentrischen und globalisierten Gesellschaft der Meinung sind, Rassismus wäre kein (großes) Problem mehr, unterschätzt die Auswirkungen dieser historisch gewachsenen Gesellschaftshierarchien enorm. Und wer glaubt selbst kein Teil dieser rassistischen Strukturen zu sein und diese zu reproduzieren, ist naiv.
Denn das Schwierige bei der aktuellen Debatte um Rassismus ist, dass dieser sich in allen Strukturen als Normalität und Standard versteckt. Und zwar sehr viel besser, als es uns lieb ist.
Eurozentrismus
Nehmen wir mal das Beispiel Schönheit. Über Schönheitskonzepte an sich gibt es unzählige Werke, die das Thema aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten. Umberto Eco hat beispielsweise eine sehr ausführliche “Geschichte der Schönheit” verfasst, in der er die unterschiedlichen Schönheitsideale und Konstrukte seit der Antike beschreibt und analysiert. Ein umfassendes und spannendes Werk. Aber es bleibt fast vollkommen unreflektiert, dass Eco hier europäische Schönheitskonstrukte untersucht. Schönheit beim Menschen wird über viele Epochen hin mit immer denselben Motiven beschrieben: weiblich, hellhäutig, blondes Haar, glattes Haar, langes Haar, “Sanduhr”-Proportionen, Jugendlichkeit.
Mal abgesehen davon, dass dieses Ideal so ziemlich alle anderen Erscheinungsformen von Menschen ausschließt, ist fast schockierender, dass sich dieses europäische Schönheitsideal aufgrund vieler Faktoren (Kolonialisierung, Reichtum, Vormachtstellung, soziale Stellung, Globalisierung, Medien, Mediatisierung, …) über den gesamten Globus ausgebreitet hat. In einer Studie von 2009, in der Modemagazine in Korea auf die ethnische Diversität der Models untersucht wurden, kam heraus, dass selbst die eigens koreanischen Magazine zu 70,2% kaukasische Models abbildeten (bei den koreanischen Ausgaben US-amerikanischer Magazine waren es sogar 87,7%). Und junge Mädchen mit krausem Haar lernen bereits im Kindesalter, dass ihr Haar “bad hair” ist und geglättet werden muss, um kultiviert auszusehen. Diese europäischen Schönheitsideale sind so stark verfestigt und verbreitet, dass selbst die ausgeschlossenen Minderheiten der Meinung sind, dass das kaukasische Ideal “classy” ist. Oder kann sich jemand vorstellen, dass weiße Menschen Afro-Perrücken tragen würden? Oder sich einer chirurgischen Lidfaltenkorrektur unterziehen würden, um “asiatische Schlupflider” zu bekommen?
Noch nicht überzeugt? Versuchen wir ein anderes Beispiel. Irgendwas mit Stereotypen: Schwarze seien faul, arbeitslos, animalisch; Latinas sind feurig, temperamentvoll und allzu fruchtbar; Asiaten sind Ja-Sager_innen und unterwürfig. Den meisten Menschen ist klar, dass diese Klischees nicht wahr sind. Und sie halten sich für unbeeinflusst von ebendiesen. In der Wissenschaft nennt man das den Third-Person-Effect: “Ich weiß, dass diese Stereotype, dass Wörter und Werbebotschaften uns beeinflussen. Und das tun sie auch bei allen anderen. Bei mir nicht, ich bin ja aufgeklärt und schlau. Aber alle anderen lassen sich davon beeinflussen. Die merken das gar nicht.” Aber all die anderen, die beeinflusst werden, denken dasselbe. Dass es sie nicht betrifft. Mit Rassismus ist es genauso. Wir leben in diesen Strukturen, in denen Friseure in der Ausbildung gar nicht erst lernen, wie man krauses Haar zu behandeln hat und in der muslimischen Frauen in der Schule verboten wird, eine Kopfbedeckung zu tragen. In der es vollkommen normal ist, Personen anderer Ethnien zu fragen: “Und wo kommst du her?” Wir leben in einer Gesellschaft, in der rassistische Witze überhaupt nur funktionieren, weil wir alle die Stereotype kennen, um die es geht. Und sie reproduzieren.
Aufruf zum Wandel
Die derzeitigen gesellschaftlichen Black Lives Matter Bewegungen sind nur ein Symptom des Geschwürs, das sich durch unsere Gesellschaften zieht. Zu lange wurden die Umstände und Nachteile als Normalität hingenommen. Wie auch andere, die für Gleichberechtigung und Wandel kämpfen (Feminismus, LGBTIQ+, Veganismus, Klimawandel, Antikapitalismus, …), will auch die Black Lives Matter Bewegung aufzeigen, wie sehr ein großer Teil der Menschheit unter der Vorherrschaft des weißen Patriarchats leidet. Und wie sehr wir alle, unabhängig unserer Ethnien, ein Teil dieser Strukturen sind, die wir versuchen aufzulösen. Sodass bestimmte Gruppierungen von Menschen nicht mehr “wie Tiere” behandelt werden und damit wir uns auch endlich mal die Frage stellen, warum wir Tiere “wie Tiere” behandeln.

Zu glauben, dass irgendeine Spezies (oder auch nur ein Teil einer Spezies) das Vorrecht auf Natur und Leben hat, ist arrogant. Unsere Intelligenz oder Fähigkeiten fantastische Dinge herzustellen, ist offensichtlich überhaupt kein Argument für unsere Überlegenheit, denn wir sind seit Jahrzehnten (wenn nicht gar Jahrhunderten) so dämlich, unsere eigene Lebensgrundlage systematisch zu zerstören. Damit meine ich nicht nur den Klimawandel, sondern die grundlegende Zerstörung des globalen Ökosystems. Denn wir sind nicht annähernd intelligent genug, um ein solches System zu verstehen, geschweige denn zu kontrollieren.
Und wenn man es so betrachten, wirken Völker, die ein “einfaches” Leben im Einklang mit Natur und ohne die rücksichtslose Zerstörung unseres Lebensraumes (und auch ohne beispielsweise Depressionen) führen, doch gar nicht so dumm und wild, wie unsere vorherrschende Gesellschaft immer tut.
Wann immer man einer anderen Kultur begegnet, sollte man also hellhörig werden und versuchen zu lernen. Wir können lernen, zufrieden zu sein; uns um andere Menschen zu kümmern, zu teilen, Leben zu ehren, den Alltag weniger zu sexualisieren, ausgelassen zu feiern, echtes Essen zu genießen, Gegenstände wertzuschätzen, anderes Leben und uns selbst zu respektieren und endlich einmal jemand zu sein, statt auf unsere konsumgesteuerte Umwelt zu hören, die uns sagt, dass wir immer nur irgendetwas werden sollen.
Referenzen
- Jung, J. & Lee Y.-J. (2009). Cross-Cultural Examination of Women’s Fashion and Beauty Magazine Advertisements in the United States and South Korea. Clothing and Textiles Research Journal, 27(4). S.274-286. DOI: 10.1177/0887302X08327087
- „Wirtschaftliche Narben“ – Andreas Sator.
- „Menschenhandel – eine kurze Geschichte der Sklaverei“ – arte.
- „I am not your negro“ James Baldwin und Raoul Peck.